Moses Mendelssohns Rechtsauffassung hat bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden und wurde noch mehr vernachlässigt als seine Philosophie. Das war vor allem der Geschichtsschreibung im Geiste des Deutschen Idealismus geschuldet, dessen latenter Antijudaismus ebenso wie die Abneigung gegenüber dem Rationalismus zu einer Abwertung des jüdischen Philosophen führte. Der Siegeszug Kantischer Philosophie und der englischen Nationalökonomie mit ihrer scharfen Entgegensetzung von Recht und Moral, rationalem Egoismus und Gemeinwohl ließen einen Denker wie Moses Mendelssohn als hoffnungslos vormodern erscheinen. Diese Auffassungen sind aber inzwischen selbst fragwürdig geworden, da die Interessen des Gemeinwohls die der Individuen zunehmend direkt tangieren und Fragen der Gerechtigkeit auf die Kontinuität zwischen Recht und Moral weisen.
Mendelssohn ist aber vor allem darin unser Zeitgenosse, dass der Staat bei ihm nicht aus dem »Volk« erwächst: Bürger zu werden setzt keine Mitgliedschaft in einer völkischen Gemeinschaft voraus – mit geteilter Kultur, Religion und Geschichte, sondern allein die Anerkennung des Staates und der bürgerlichen Gesetzgebung. Er erarbeitete seine Rechtsphilosophie im Kontext der preußischen Rechtsreformen, der öffentlichen Debatte zur Judenemanzipation und der Josephinischen Judengesetzgebung. Das Thema unseres Bandes hat daher zwei Dimensionen, die eng zusammenhängen: zum einen die Auffassungen Moses Mendelssohns zum Recht im Kontext der frühneuzeitlichen Rechts- und Staatsphilosophie, zum anderen aber die rechtliche Realität im preußischen und darüber hinaus europäischen Umfeld Mendelssohns unter besonderer Berücksichtigung der rechtlichen Stellung der Juden.